Als Lektorin versuche ich, Manuskripte für die Leser so zu redigieren, dass sie möglichst gut verständlich sind. Umso irritierter war ich, als ich das erste Mal den Codex Seraphinianus in der Hand hielt.
Ein Mann in Jeans mit Rollschuhen an den Füßen liegt auf dem Rücken am Boden. Der Boden ist mit Notizen, Tabellen und Papierfetzen übersät, aus einem umgekippten Fass fließt Tinte. Der Mann hat Arme und Beine ausgestreckt, dem rechten Arm fehlt jedoch die Hand und endet stattdessen in einer großen Füllfeder. Mitten im Bauch des Mannes steckt ein überdimensionaler, gelber Bleistift, aus der Wunde tropft schwarze Tinte: ein menschliches Schreibwerkzeug, erstochen von einem Bleistift.
Sie fragen sich, warum und wo sich die beschriebene Szene abspielt? Diese Fragen kann ich Ihnen leider nur teilweise beantworten. Die meisten Menschen sind so ahnungslos wie ich, nur wenige glauben des Rätsels Lösung zu kennen, und nur eine Person weiß es ganz bestimmt: der italienische Architekt, Künstler und Buchautor Luigi Serafini. Der Rollschuhfahrer mit dem Füllfeder-Arm stammt aus der fantastischen Welt des Codex Seraphinianus, der 1981 vom Verleger Franco Maria Ricci herausgegeben wurde und seither bei seiner »Leserschaft« für viel Begeisterung, Erstaunen und Kopfzerbrechen gesorgt hat. Der großformatige Kodex von knapp 400 Seiten ist voller Zeichnungen geheimnisvoller Welten und Wesen, die von Texten in einer unbekannten – bis heute nicht dekodierten – Schrift und Sprache begleitet werden. Es gibt Bäume, die ihre Wurzeln aus der Erde lösen, sich auf den Weg Richtung Meer machen, dort ins Wasser springen und sich mit rotierenden Wurzeln durch die Wellen pflügen. Mäuse mit Ohrringen, Fische in Tauchausrüstung und dreiköpfige sowie kopflose Vögel bevölkern die wundersame Welt. Es gibt Maschinen, die menschliche Körperteile in ihre Mechanik integrieren, oder Städte, die auf Stelzen gebaut und durch Regenbogen-Brücken miteinander verbunden sind. Es werden wunderliche Metamorphosen (zum Beispiel vom Mensch zum Krokodil) illustriert, Prozesse anhand von Schautafeln scheinbar erläutert und Wachstumsphasen verschiedenster Wesen gezeigt.
Erfolglose Entschlüsselung
Es scheint so, als ob in den Paragrafen und Aufzählungen zu den Zeichnungen deren Bedeutung und Funktion erklärt wird, die Schrift also eine unterstützende Funktion einnimmt. Dieses grafische Zusammenspiel von Text und Bild sowie der strukturelle Aufbau implizieren, dass es sich beim Kodex um eine bebilderte Enzyklopädie handelt. Die verschiedenen Kapitel des Buches lassen sich in sechs Wissensbereiche einordnen: Naturwissenschaften (Botanik, Tierreich, Chemie), Technik (sonderbare Maschinen und Geräte), Menschen (verschiedene Stämme, Wohnformen, Kleidung), Linguistik, Spiele und Architektur (Brücken- und Städtebau). Die Leser können sich nur an diesem formalen Gerüst der bekannten Wissensvermittlung festhalten und starren ahnungslos auf die unentzifferbare Handschrift.
Viele Linguisten, Mathematiker und Verschwörungstheoretiker haben versucht, die Schrift zu dechiffrieren – bis heute erfolglos. Der Autor Luigi Serafini ist dabei – obwohl er noch lebt – keine große Hilfe und gibt nur sehr rätselhaft Auskunft über Entstehung und Bedeutung seines surrealen Werks. In der Neuauflage des Kodexes ist ein Heft mit dem Namen Decodex beigelegt, das in verschiedenen bekannten Sprachen verfasst ist, jedoch keinerlei Hinweise auf die Dekodierung gibt. Serafini erklärt darin, wie ihm eine weiße Katze bei der Entstehung behilflich war und dass die Ideen für den Kodex vor allem aus seinen Träumen stammen.
Spiel mit den Erwartungen
Der Codex Seraphinianus irritiert und fasziniert gleichzeitig, da er mit den Erwartungen spielt, die an ein Buch gestellt werden. Denn zwischen zwei Buchdeckeln entfaltet sich in der Regel eine Welt, deren Sinn und Inhalt durch Schriftzeichen übermittelt werden. Wir erwarten von einem Buch, dass es uns in irgendeiner Form Wissen vermittelt, eine nachvollziehbare Geschichte erzählt, eine Aussage macht. Der Kodex entzieht sich jedoch diesem Anspruch; er suggeriert durch eine bekannt wirkende Schrift zwar Lesbarkeit, verweigert dem Leser jedoch den Zugang zur Entschlüsselung. Luigi Serafini spielt mit dem arbiträren Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem und nennt den Kodex ein Buch für die moderne Informationsgesellschaft, in der das Kodieren und Dekodieren von Nachrichten aller Art immer wichtiger werde.* Doch was bleibt von einem Buch, wenn es nicht gelesen werden kann? Für den Leser (wenn dieser Begriff in diesem Zusammenhang überhaupt verwendet werden kann) stellt das Buch eine Herausforderung dar; ähnlich einem Kind, das noch nicht lesen kann, jedoch hinter Schriftzeichen einen Sinn vermutet, geht er an den Kodex heran und versucht, Zusammenhänge herzustellen. Diese Versuche, etwas zu verstehen, lösen – meinen Beobachtungen nach – einen sehr kreativen Prozess aus, der die Vorstellungskraft des Lesers fördert. Jede Person entdeckt in den Zeichnungen andere Details und baut eine eigene Geschichte um die sonderbaren Wesen herum. Zu diesen Wesen gehört auch die Schrift selbst: Durch das Wegfallen der Bedeutungsebene und der Reduktion auf die Zeichenebene enthält sie eine eigene Körperlichkeit und wird zu einer wandel- und interpretierbaren Materie. Es geht viel mehr um ein Erfahren als um ein Übersetzen der rätselhaften Schrift.
Mittelalterliches Vorbild
Der Codex Seraphinianus ist trotz der Besonderheiten in seiner Form nicht einzigartig und erinnert in vielerlei Hinsicht an das Voynich Manuskript aus dem 15. Jahrhundert. Dieses wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vom Sammler Wilfrid Michael Voynich in einem italienischen Jesuitenkloster entdeckt und ist ebenfalls in einer unbekannten Schrift und Sprache verfasst. Wie der Kodex erinnert seine Struktur an diejenige einer Enzyklopädie, enthält viele farbige Zeichnungen und kann in thematische Sektionen eingeteilt werden, der Schwerpunkt liegt auf Botanik und Kräuterkunde. Das Voynich Manuskript ist in gewisser Hinsicht sogar noch geheimnisvoller als der Kodex, da über Entstehungsort, -zeit und Verfasser kaum etwas bekannt ist. Die zeitliche Datierung wurde anhand von Farbproben vorgenommen und durch die Untersuchung der verwendeten Materialen konnte eine – immer wieder diskutierte – Fälschung ausgeschlossen werden. Obwohl Dechiffrierungen und verschlüsselte Botschaften im Mittelalter sehr beliebt waren, stellt das Voynich Manuskript in Umfang und Ausstattung eine Ausnahme dar. Da die Herstellung eines solchen Buches mit enormen Kosten verbunden war (Pergament und Farben waren zu dieser Zeit sehr teuer), erstaunt es umso mehr, dass dieser Aufwand für ein – aus heutiger Sicht – unlesbares Buch aufgewendet wurde. Die Tatsache, dass am ganzen Buch keine Radierungen vorgenommen wurden – also alles fehlerfrei am Stück geschrieben werden musste –, sowie die Entdeckung, dass sich einige Darstellungen bewegen und Figuren zum Leben erwachen, sobald man die Seiten genügend schnell dreht, werfen immer neue Fragen auf.
In den zwei Enzyklopädien werden Grenzen und Möglichkeiten des Mediums Buch aufgezeigt und diskutiert. Im Codex Seraphinianus sind zudem viele Verweise auf den Prozess des Schreibens zu finden, der Rollschuhfahrer mit dem FüllfederArm ist nur eines von vielen Beispielen. »Jenseits der Lesbarkeit« bedeutet, dass die Inhalte nicht wie gewohnt wahrgenommen werden können, sondern ihren Sinn nur durch die Neugier und Fantasie der Leser entfalten. Sobald der Leser in das rätselhafte Universum des Codex Seraphinianus eintaucht, eröffnet sich ihm eine wunderschön groteske, vielschichtige und überraschende Welt. Meine anfängliche Irritation über die »Unlesbarkeit« des Kodexes hat sich in pure Begeisterung gewandelt, und ich freue mich darauf, bald mein eigenes Exemplar in den Händen halten zu können.
* www.abebooks.de/Buecher-Highlight/Codex-Seraphinianus.shtml
Für Neugierige:
Das Voynich Manuskript kann online unter http://brbl-dl.library.yale.edu/vufind/Record/3519597 in seiner ganzen Länge betrachtet und studiert werden.
Die Neuauflage des Codex Seraphinianus von 2013 ist im Buchhandel erhältlich. Zudem kann er in der ETH-Bibliothek (Signatur: T 51682 q) ausgeliehen werden und im Internet finden sich viele Fotos der Zeichnungen.
Bildnachweis: © Luigi Serafini, mit freundlicher Genehmigung
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