Becky Moses hatte ihr Dorf verlassen, weil sie sich weigerte, den Mann zu heiraten, den ihre Familie für sie ausgesucht hatte. Eine Weile hatte sie noch fern ihrer Heimat Nigeria als Friseurin gearbeitet. Dann beschloss sie, nach Italien zu gehen, und begab sich in die Hände von Schleusern. Am 28. Dezember 2015 landete sie an der Küste Kalabriens und kam kurz darauf nach Riace.
Es hätte Becky Moses auch das Schicksal vieler anderer Frauen blühen können, die gezwungen sind, ihre nie endende Schuld mit Prostitution und Abhängigkeit von der Mafia zu bezahlen. Zufällig haben die bürokratischen Wege sie aber zu uns nach Riace geführt. Wir haben sie in einer Erstaufnahmeeinrichtung aufgenommen, einem sogenannten CAS (Centro di accoglienza straordinaria), die von der italienischen Regierung eingerichtet worden waren, um den zunehmenden Flüchtlingsstrom zu bewältigen.
Normalerweise waren die CAS große Auffanglager, die oft in verlassenen Hotels, Kasernen oder Fabrikhallen eingerichtet und nicht selten von Spekulanten ausgeschlachtet wurden. Die kargen Schlafsäle und die notdürftige Einrichtung ließen dort keinen Gedanken an Gastfreundschaft aufkommen. In Riace jedoch waren es über das Dorf verstreute Häuser, in denen im Lauf der Jahre Wohnungen hergerichtet und in Orte des Willkommens verwandelt wurden.
Sie wurden daher auch »Häuser des Willkommens« getauft.
Um diese Zentren am Laufen zu halten, hatte man Vereinbarungen mit den lokalen Gemeinden und Verwaltungsbezirken getroffen. Es waren schwierige Jahre, weil die italienische Regierung ständig über die Regionalpräfektur an uns herantrat, um uns trotz beschränkter Plätze um die Aufnahme von Menschen zu bitten, während dieselbe Regierung in Form des Innenministeriums uns die nötigen Mittel verweigerte, um den Gästen menschenwürdige Standards bieten oder die Gehälter des Fachpersonals zahlen zu können. Trotz aller Schwierigkeiten waren wir aber fest entschlossen, Wege der Integration für unsere Gäste zu entwickeln und auszubauen.
Kurz nach ihrer Ankunft hatte Becky, so wie viele andere auch, sich daran gemacht, sich mit der italienischen Lebensart anzufreunden, einen Beruf zu erlernen und sich einer Welt zu öffnen, die völlig anders war als diejenige, die sie bis dahin gekannt hatte. Sie entpuppte sich schnell als fröhliche junge Frau, die ganz von dem Wunsch erfüllt war, sich eine Zukunft aufzubauen.
Für mich ist die einzige Grenze die zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. – Mimmo Lucano, Riace
Am 22. Dezember 2017 kam Becky ins Rathaus, um ihren Personalausweis zu erneuern, den sie bei einer Busfahrt verloren hatte. Im »Globalen Dorf« – im Herzen der Altstadt, in dem sich auch die Häuser des Willkommens befinden – hatte sich bereits die Nachricht verbreitet, dass sich das CAS-Projekt dem Ende zuneigte, und ohne Ausweis lebte Becky riskant, denn wenige Tage später wäre ihre Aufenthaltserlaubnis abgelaufen. In ihren Augen war dieses Stück Papier auch die Bestätigung ihrer Identität und der Beweis, dass sie keine Kriminelle oder Illegale war. Becky kannte ihre Rechte: bei einer Protestaktion in Riace an Silvester 2016, weil der Staat wieder einmal mit der Bereitstellung der finanziellen Mittel für Aufnahme und Integration im Verzug war, stand sie in der ersten Reihe.
Sie beteuerte mehrmals, dass sie den Ausweis wirklich verloren hatte, dass sie einfach unachtsam gewesen war. In einer kleinen Gemeinde wie Riace kann der Bürgermeister in Ausnahmefällen die Aufgaben des Standesbeamten übernehmen. Tatsächlich war dieser wenige Monate zuvor in Pension gegangen, und ich hatte interimsmäßig sein Amt übernommen. Ohne viel Federlesens stellte ich Becky Moses den Ausweis aus und setzte meine Unterschrift darunter. Noch heute bin ich stolz auf die Tatsache, dass mein Name auf diesem Ausweis steht.
Becky lächelte, als sie am 22. Dezember 2017 mein Büro verließ. In diesem Lächeln, in dem auch Verzweiflung lag, fand ich die Kraft, dem damaligen Präfekten von Reggio Calabria, Michele Di Bari, einen Brief zu schreiben: Es war gefährlich, weitere Menschen aufzunehmen, weil wir in den Häusern keinen elektrischen Strom mehr hatten und keine Mittel, um Medikamente und Nahrung zu kaufen, wie etwa die Milch für die vielen Kinder, die wir beherbergten. Ich beschrieb unsere Situation, in der wir die Achtung der Menschenwürde nicht mehr gewährleisten konnten, auch wenn das bedeutete, dass unsere Gäste anderswohin transferiert wurden.
Wenige Tage später, am 3. Januar 2018, war Beckys Aufnahmezeit in Riace abgelaufen. Bei ihrem Besuch in der Gemeinde hatte sie erzählt, dass sie wahrscheinlich nach Neapel gehen würde, wo sie Freunde hatte, oder auch nach San Ferdinando, in die Slumsiedlung zwischen Gioia Tauro und Rosarno – ein Tummelplatz für die Mafia, »Caporali« und Konsorten, und eine Schande für den italienischen Staat. In dieser illegal errichteten Barackenstadt wohnten Landsleute von ihr, die bereit waren, sie ein paar Tage zu beherbergen. Ich frage mich oft, ob ihr am 11. Januar jemand zu ihrem 26. Geburtstag gratuliert hat.
Es ist kalt im Januar, in der Ebene von Gioia Tauro. Man ist mit vielen anderen zusammen in einer winzigen Bruchbude untergebracht, wo es nicht mehr als ein paar alte Decken oder ein Feuer gibt, um sich zu wärmen. Vielleicht hatten Beckys Freunde ein Lagerfeuer neben ihrem Zelt entzündet, vielleicht schafften sie nicht, es unter Kontrolle zu bringen: Die Plastikplanen und Holzbalken, mit denen die Baracken gebaut sind, brauchen nicht viel, um Feuer zu fangen.
Becky starb gegen zwei Uhr nachts am 26. Januar 2018 bei einem Brand unklaren Ursprungs. Zwei Freundinnen, die sich mit ihr im Zelt befanden, wurden schwer verletzt ins Krankenhaus von Polistena eingeliefert. In den Überresten des Feuers, das sich schnell ausgebreitet und auch auf andere Zelte in der Nähe übergegriffen hatte, fand man Beckys Personalausweis. Es war ihr Foto darauf, und meine Unterschrift. Erst einen Monat zuvor hatte ich ihr dieses Dokument ausgehändigt, und sie hatte gelächelt vor Freude über ihre zurückeroberte Identität.
Die Erinnerung an sie bleibt. Sie wurde auf dem Friedhof von Riace beigesetzt, in einer Grabnische in der obersten Reihe. Man muss in den Himmel schauen, um ihr trauriges Gesicht zu sehen.
Auszug aus Mimmo Lucanos Buch »Das Dorf des Willkommens«, übersetzt von Elvira Bittner.
Bildlegende: links: Riace, © Sabine Karmazin; rechts: Grab von Becky Moses, © Elvira Bittner
rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH | Alderstrasse 21 | CH-8008 Zürich | +41 (0)44 381 77 30 |