Wenn es um die Sicherheit von Arbeitsplätzen geht, schlagen schnell die Wogen hoch. Zwei Denker äußern sich im Gespräch mit Cheflektor Felix Ghezzi über ihre persönliche Haltung zum brisanten Thema »Arbeit«. Dr. Lynn Blattmann, Autorin von »Arbeit für Alle«, und Willi Fehlmann, Autor von »Manifest.Zukunft. Die Tätigkeitsgesellschaft«.
Felix Ghezzi: Wie identitätsstiftend ist Ihre Arbeit für Sie?
Willi Fehlmann: Arbeit ist sehr zentral für mich, und das war generationenbedingt immer Lohnarbeit. Freiwilligenarbeit war nur in der Freizeit möglich.
Lynn Blattmann: Ich habe früh sehr viel Freiwilligenarbeit geleistet, vor allem politische im Studium und dazu Lohnarbeit, um das Studium zu verdienen. Arbeit ist bei mir persönlich nicht so stark mit Lohnarbeit verknüpft. Für mich ist es wichtig, tätig zu sein, etwas zu machen, das mich fasziniert und das für mich relevant ist. Ich bin nicht nur auf Lohnarbeit fixiert, aber ich möchte nicht pensioniert, untätig und zu ewiger Freizeit verpflichtet werden.
FG: Waren Sie je in der Situation, Angst um Ihren Job zu haben?
WF: Ich habe immer Projekte gemacht – hier oder im Ausland – mal mehr, mal weniger. Aber ich hatte nie die Befürchtung, dass ich kein Projekt mehr habe. Weil es ganz verschiedene Projekte in ganz unterschiedlichen Firmen waren, war es für mich eben auch Tätigkeit. Und zum Glück konnte ich damit Geld verdienen.
LB: Vor zwölf Jahren hatte ich eine Beratungsfirma in Zürich, die ziemlich schnell und brutal gescheitert ist. Weil ich selbständig war, konnte ich nicht stempeln gehen. Das große Projekt, auf das ich alles gesetzt hatte, kam nicht zustande, ich wollte umsatteln, und auf einmal war das Pferd nicht mehr da. Das hat mich dazu gebracht, dass ich Zürich verließ und in eine Sozialfirma eingestiegen bin. Es hat zugleich meinen Unternehmerinnengeist gestärkt, und ich betrachte es heute als eine wichtige Erfahrung für mich.
FG: Inwiefern?
LB: Weil es mit Angst verbunden ist – es war ein enormer Abstieg, weil ich alles, was ich hatte, verloren habe und nichts Neues sah. Natürlich hätte ich mir eine Stelle suchen können, ich war damals Mitte 40, und ich habe auch zwei Sachen probiert, die aber nicht geklappt haben. Das Gefühl, dass der Boden nicht immer hält und dass er durchbrechen kann, das war für mich einschneidend.
FG: Sie haben beide das Ziel, dass es möglichst wenig Arbeitslosigkeit gibt und Arbeitslose nicht stigmatisiert werden. Sie sehen beide einen anderen Weg dorthin.
LB: In meinem Bereich geht es um die Arbeitsintegration von Leuten, die Sozialhilfe beziehen. Das ist die »unterste« Schicht, das sind die Armen. Die meisten wollen arbeiten, aber sie können nicht, deswegen ist für mich der Weg auch ganz klar die Arbeitsintegration, d.h.: Ich sehe es als soziale Verpflichtung, dass Menschen, die dies können, für andere Arbeitsplätze schaffen. Viele Gespräche mit Betroffenen haben mir gezeigt, dass sie keine Betreuung wünschen, es geht ihnen nicht um Coaching oder Geld, sondern um eine sinnvolle Arbeit; mitwirken zu können in der Gesellschaft. Diese Menschen zur Untätigkeit zu verdammen ist eine Form von Einzelhaft.
WF: Die Möglichkeiten, Reintegrationen in den Ersten Arbeitsmarkt zu schaffen, nehmen meiner Ansicht nach ab. Die Digitalisierung wird unzählige Arbeitsstellen abschaffen. Deshalb entwickelte ich den Begriff »Tätigkeitsgesellschaft«, denn die Lohnarbeit darf nicht mehr diese dominierende Funktion einnehmen, die sie heute hat. In der Tätigkeitsgesellschaft spielen Begriffe wie ausgesteuert oder arbeitslos keine Rolle mehr – das ist mein Zukunftsbild. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat in den 1970er-Jahren gesagt, der Mensch braucht keine Arbeit, er muss sinnvoll tätig sein.
Der Weg zu einer Tätigkeitsgesellschaft benötigt 1. freien Zugang zu einer Grundversorgung im Gesundheitswesen, 2. freien Zugang zu Bildung, 3. Maßnahmen in der Gesellschaft, dass ich mich von der Lohnarbeit lösen kann – z.B. ein Grundeinkommen, also eine Existenzsicherung. So kann ein Mensch verschiedenen Tätigkeiten nachgehen und ist nicht gezwungen, Arbeit zu suchen und zu finden, und falls er keine findet, stigmatisiert zu werden.
LB: Das ist ein guter Weg für hoch qualifizierte, selbstverantwortliche Menschen. Die Akzeptanz dieses Weges ist nicht mein Problem, ich habe auch keine Probleme mit Menschen, die aus dem System fallen. Zudem haben wir in der Schweiz eigentlich eine Form von Existenzsicherung für Menschen, die nicht arbeiten können – ob das die Arbeitslosenversicherung ist, die IV oder die Sozialhilfe, Taggelder der Krankenkasse, Pensionskasse etc.
Neue Modelle und Theorien werden schon lange diskutiert. Ende der 1980er-Jahre war ich in einer Gruppe für garantierte Existenzsicherung, also Grundeinkommen, und ich fand das ganz großartig. Und ich finde das heute noch so für Studenten. Aber bei unserer Zielgruppe – den Langzeitarbeitslosen – ist es wichtig, dass sie an der Gesellschaft durch einen gesicherten Arbeitsplatz teilnehmen.
WF: Das Grundeinkommen ist für mich ein Puzzleteil in einem Korb von Möglichkeiten, und für sich genommen löst es nicht alle Probleme. Ich habe viel in Projekten mit Menschen an Maschinen gearbeitet, ich habe teilautonome Gruppen eingeführt in Pharmaproduktionen mit Arbeiten, die sehr repetitiv sind. Die Leute waren nicht hoch qualifiziert, aber sie kamen gerne und waren froh, dass sie jeden Tag die gleichen Kollegen treffen und zusammen etwas tun. Dort habe ich festgestellt: Sie entwickeln sich, wenn man die Möglichkeit dazu schafft.
In Management-Kursen habe ich immer wieder gesagt: Wenn jemand zu Hause gerne gärtnert, dann ist er motiviert, das heißt aber nicht, dass er im Betrieb motiviert ist. Er würde aber durchaus gerne noch mehr gärtnern. Viele Leute haben durchaus Ideen, was sie machen können, wenn sie damit auch ihre Brötchen kaufen können.
Die Sozialsysteme stehen heute schon unter massivem Druck. Und durch die aktuelle technologische Entwicklung wird dieses Problem akut. Wir werden unsere Sozialsysteme mit dem jetzigen Steuersystem nicht mehr finanzieren können.
FG: Von welchem Zeithorizont sprechen wir?
WF: Das können 10, das können 30 Jahre sein. Jede große Umwälzung, wie sie die Digitalisierung darstellt, hat ihre Inkubationszeit. Wenn ich eine Dampflok entwickle, muss ich auch die Schienen liefern. Bei neuen Technologien muss folglich auch das ganze Setting drum herum entwickelt werden.
FG: Frau Blattmann, wie schätzen Sie die Lage ein?
LB: Im Moment läuft die Entwicklung anders als überall diskutiert. Man erwartet mit der Industrie 4.0 eine enorme Umschichtung und Arbeitslosigkeit und dass ganze Branchen wegfallen und andere völlig neu organisiert werden – das betrifft nicht die Gering-, sondern die Mittelqualifizierten. Man hat Angst, dass die ganze KV-Branche, von Büroangestellten bis zu Anwälten der Digitalisierung zum Opfer fallen. In der Produktion ist schon viel automatisiert worden, da wird nicht mehr so viel passieren, wie prophezeit wird.
Ich befürchte, dass wir eine große Zahl von Arbeitslosen in der Mittelschicht bekommen. Die haben in der Regel eine Lehre gemacht, keine Hochschule absolviert. Die Frage ist, ob deren Kreativität, deren unternehmerische Fähigkeiten z.B. für eine »Ich-AG« ausreichen.
Das Sozialsystem kann eine massive Zahl von Mittelschichtlern nicht auffangen, ohne dass diese einen fatalen finanziellen Abstieg in Kauf nehmen müssen. Dass die Armen arm bleiben, ist nicht überraschend, aber wenn der Mittelstand zusammenbricht, wird das unserer Gesellschaft zu schaffen machen.
Die Frage ist: Wer verdient Geld und wer wird »abgespeist«? In der Grundlohn-Diskussion spricht man von CHF 2000, das ist so viel, wie man von der Sozialhilfe bekommt. Will man das jetzt noch ausweiten und als Idee postulieren für die Mittelklasse? Es braucht seitens der Bildung eine verstärkte Förderung der Selbstkreativität; schaue ich mir jedoch die Entwicklung der psychischen Probleme an, frage ich mich: Wie viele Menschen haben tatsächlich genügend Ich-Stärke, um das zu schaffen: selbständig zu sein, immer wieder um Aufträge zu kämpfen, es auszuhalten, wenn es mal nicht läuft; kein Team zu haben, das einen auffängt.
WF: Das ist eines der großen Probleme, in den USA schon deutlicher als bei uns. Diese Ich-AGs wollen in unserem System Geld verdienen, und einige von ihnen bauen auch parallele Wirtschaftskreise auf. Die Gefahr besteht in der Ausnutzung: Sie müssen sich verkaufen, oft über Plattformen ohne Absicherung. Mit der Zeit müssen sie auch unqualifizierte Arbeiten übernehmen, um zu überleben, z.B. sich in Callcentern verdingen.
LB: Man muss aufpassen vor einer latenten Wirtschaftsfeindlichkeit dieses Diskurses. Sozialpolitik wird ja hauptsächlich von der Linken diskutiert, die rechte Seite hält sich eher raus. Momentan leistet die Wirtschaft enorm viel Integration, nicht jede Stelle, die weggespart werden könnte, wird tatsächlich gespart. Die Ich-AGs schaffen in den seltensten Fällen Arbeitsplätze, es sind nach wie vor die bestehenden Unternehmen, die Arbeitgeber sind.
WF: Das Wirtschaftssystem ist sicher integrativ und bietet auch Sicherheit durch die Leute, die dort arbeiten. Das Steuersystem ist weitgehend durch diese Menschen organisiert. Ebenso die Sozialversicherung.
FG: Wenn die Mittelklasse wegfällt: Ist die Tätigkeitsgesellschaft eine schöne Sozialutopie?
WF: Sprechen wir von Arbeit, sprechen wir in der Schweiz immer von der Lohnarbeit, das sind rund CHF 7 Mrd. pro Jahr. Wir haben zudem noch CHF 7–8 Mrd. unbezahlte Arbeit. Die bleibt, gilt aber nicht als integrativ. Man muss neu denken: Ist das Grundeinkommen wirklich bedingungslos oder z.B. an bestimmte Care-Arbeit gebunden. Die Frage ist: Wie massiv müssen die Probleme werden, bis die bestehenden Lösungen attraktiv sind?
LB: Man müsste ehrlich sein: Wenn die Mittelklasse tatsächlich wegbricht, dann werden wir es mit einer Massenverarmung zu tun haben. Und: Was ist mit denen, die die garantierte Existenzsicherung nicht brauchen? Wie leben sie? Die Schweiz ist so stark geworden, weil wir es nach dem 1. Weltkrieg geschafft haben, mit den Sozialwerken eine Kohäsion aufzubauen bei eher geringer Armuts- und Reichtumsspanne. Es gibt keine bittere Armut in der Schweiz. Auch wer von der Sozialhilfe lebt, ist nicht wirklich arm. Wir haben (noch) einen guten und funktionierenden Sozialstaat.
FG: Sind Sozialfirmen die Antwort?
LB: Keineswegs, Sozialfirmen sind eine Antwort auf die strukturelle Arbeitslosigkeit der schlecht Qualifizierten und teilleistungsfähigen Menschen. Und das ist ein kleiner Ausschnitt der Gesellschaft. Im Moment sind nicht mehr Menschen von einem strukturellen Ausschluss betroffen. Wenn jedoch sehr viel mehr strukturell ausgeschlossen werden, müssen andere Lösungen kommen.
WF: Das Links-rechts-Schema löst sich immer mehr auf. Auch Topmanager in großen Unternehmen machen sich echte Sorgen. Einerseits realisieren sie, dass sie durch die Digitalisierung keine Preise mehr bestimmen können, und wenn das alles passiert, was wir angesprochen haben, dann gibt es Aufstände, und das beschäftigt diese Leute sehr.
FG: Wo müsste man anfangen?
WF: Weltweit gibt es sehr viele Bewegungen, die im positiven Sinne Share-Communitys betreiben, natürlich vor allem in Ländern, in denen es den Menschen schlecht geht – Spanien, Italien, Griechenland. Die Menschen organisieren sich, handeln wieder miteinander, parallel zum Ersten Arbeitsmarkt.
LB: Genau das ist ja das Desintegrative, weil es parallel zur Gesellschaft läuft. Siehe Sardinien: lange Arbeitslosigkeit, kaum Chancen, je wieder eine Stelle zu erhalten. Dass sich dort eine Parallelgesellschaft organisiert, die nach eigenen Mustern zu überleben versucht, ist eine gute menschliche Seite, aber es ist auch die Bankrotterklärung einer integrativen Gesellschaft.
Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass unser Niveau der sozialen Absicherung sinken wird. Bevor wir aber warten, bis alles in Schieflage gerät, bestünde doch die Option, die Bedürfnisse runterzuschrauben und damit etwas zu bewegen.
WF: Die Gefahr besteht, dass sich alles amerikanisiert, dass man eine stark desintegrierte Gesellschaft bekommt mit vielen Gig-Jobs, kleinsten Jobs, keiner Absicherung mehr. Das ist nicht nur die fehlende Krankenkasse, sondern auch im Alltag gibt es keine Sicherheit mehr.
FG: Zeichnen sich Lösungen ab?
LB: Die Frage ist noch zu wenig virulent. Wenn das eintrifft, was alle befürchten, und wir eine massive Arbeitslosigkeit bewältigen müssen, dann reden wir nicht mehr davon, ob einer einen Mindestlohn von CHF 3200 oder 3500 verdient, sondern davon, dass ganze Gruppen desintegriert werden à la Amerika und sich mit privaten Suppenküchen über Wasser halten müssen. Dann wird es heikel: Wenn eine Mittelschicht so viel verliert – wir sehen das in Amerika oder in England –, muss man sich überlegen, welche Maßnahmen greifen, damit es nicht zu einer Desintegration kommt.
WF: Pestalozzi hat zur Armut erzogen, zwischen Armut und Elend unterschieden. Ich glaube nicht, dass wir in Armut leben werden müssen. Die Frage ist, was braucht der Mensch, um zufrieden zu sein. Und was braucht es, damit die Gesellschaft nicht total auseinanderfällt.
Die Gewerkschaften müssen ein neues Geschäftsmodell finden. Arbeitsplatzgarantie ab 50, Sicherheiten, das fördert alles die Dezentralisierung. Das beschleunigt den Umwandlungsprozess. Topmanager überlegen häufig nur noch, wie viele Mitarbeiter sie aus politischen Gründen behalten sollen oder wie viele auf einmal sie entlassen können. Und das sind nicht ein paar Hundert, das sind Tausende von Entlassungen.
LB: Es wird Gewinner und Verlierer geben. In den letzten 80 Jahren haben wir erfolgreich verhindern können, dass diese Schere aufgeht. Die Linke ist total ratlos, denn es ist eine Umwälzung, die niemand vorhersehen konnte. Ist es also möglich, ganz anders zu denken? Reicht unsere Lösungsfindungskompetenz für diese Herausforderungen aus?
WF: Wir Schweizer haben ja Erfahrungen: 1974 gingen 70000 Arbeitsplätze in der Uhrenindustrie verloren, was kein Problem wurde, denn es kamen neue Industrien dazu. Im allgemeinen Bewusstsein haben wir diese Krise gut gemeistert. Das wird nicht mehr so sein – es wird sicher neue Arbeitsplätze geben, neue Typen von Arbeitsplätzen, aber nicht mehr so viele wie damals. Phasenweise werden viele Jobs im IT-Bereich zu vergeben sein, die dann aber auch mehr und mehr computerisiert werden.
LB: So sicher bin ich mir nicht, ob es nur noch Plätze für Hochqualifizierte geben wird. Uber hat z.B. viele Arbeitsplätze für Geringqualifizierte geschaffen – als Taxifahrer braucht man keinen Uni-Abschluss. Einen Gärtner, eine Friseurin oder einen Hausmeister wird man weiterhin benötigen. Dennoch: Es ist eine enorme Umwälzung im Gange, und die wird unsere Gesellschaft stark betreffen. Alles, was für diese Problematik sensibilisiert, und alles, was ideologischen Starrsinn abbaut, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Zudem glaube ich an die Fantasie der Menschen. Zu bedenken gilt es auch: Ist es Fortschritt, wenn jeder Luxus für alle zugänglich ist? Ist das der Sozialstaat, den wir wollen? Können wir nicht dazu stehen, dass wir eine differenzierte Gesellschaft sind? Es gibt Leute, die haben mehr Geld und die können sich mehr leisten, und andere können sich weniger leisten. Es gibt kein Recht auf Ferien in exotischen Ländern, aber auf gesellschaftlichen Zusammenhalt, Fairness und Chancengerechtigkeit.
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Bildnachweis: © Saskia Nobir
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