In einer Stafette treffen sich in meinem Buch »Von Arthur Miller via Simone de Beauvoir zu Duke Ellington« jeweils zwei Persönlichkeiten, die im 20. Jahrhundert Kulturgeschichte geschrieben haben. Die zwölf Begegnungen fanden tatsächlich statt. Das Folgende ist dagegen spielerisch und semifiktiv: So hätten ein paar Stunden im Leben und Wirken der dreizehn Protagonisten meiner Begegnungskette an einem zufällig gewählten Datum – Mittwoch, 27. September 1950 – verlaufen können.
Norman Mailer (27) schreibt an einer zweiten Fassung seines zweiten Romans im eben bezogenen 11-Zimmer-Haus in Putney, Vermont. In Barbary Shore geht es um die literarischen und politischen Mühen eines jungen Schriftstellers im Brooklyn der Nachkriegsjahre. Trotz des anspruchsvollen Inhalts hofft Mailer, den Erfolg seines Erstlings von 1948, The Naked and the Dead, wiederholen zu können. Die vier Gin Tonics, die er schon vor dem Nachtessen kippt, steigern seinen Optimismus. Zu Unrecht. In zwei Monaten wird er das Manuskript seinem Verleger Rinehart in New York einreichen. Das Buch wird ein totaler Misserfolg. Mailer verliert den Halt. Es folgen seine schwierigsten Jahre, mit literarischen Flops und ersten gesellschaftlichen Skandalen; sie machen Mailer zum Bad Boy der amerikanischen Literaturszene.
Arthur Miller (35) sitzt mit Elia Kazan, dem Regisseur seines Broadway-Hits vom letzten Jahr, Death of a Salesman, in der Montero Bar am westlichen Ende der Atlantic Avenue in Brooklyn, unweit seines Hauses am Grace Court in den Brooklyn Heights. Sie unterhalten sich über Millers nächstes Stück. The Hook, in einer späteren Version mit A View From the Bridge betitelt, ist die Geschichte von Pete Panto, einem italienischen Hafenarbeiter in den Werften von Brooklyn, ein Milieu, das Miller aus eigenen Beobachtungen und Erfahrungen bestens kennt – er hat während des Krieges selbst dort gearbeitet. Elia Kazan ist begeistert. Er schlägt vor, The Hook einem Hollywoodproduzenten für einen Film anzubieten. Das Vorhaben wird scheitern. Aber Miller findet auf der »Verkaufstour« nach Hollywood einige Monate nach dem Treffen im Montero privates Glück, wenn auch nur ein vorläufiges: Er lernt Marilyn Monroe kennen.
John Huston (44) bespricht bei einem Mittagessen im Chateau Marmont in Hollywood mit Humphrey Bogart seinen nächsten Film, The African Queen. Bogart soll zusammen mit Katharine Hepburn die Hauptrolle spielen. Bogart versucht Huston auszureden, direkt in Afrika zu filmen; ohne Erfolg. Bogart kommentiert die Episode später: »If there is any place in the world where filming is quasi impossible, John Huston will find it.« Gedreht wird dann bei äußerst schwierigen Bedingungen vornehmlich in Uganda. Der Film wird einer von Hustons größten Erfolgen, mit einer Nominierung für beste Regie beim Oscar-Reigen. Und auch Humphrey Bogarts Zusage mit Stirnrunzeln im Chateau Marmont hat sich schließlich gelohnt: African Queen bescherte ihm seinen ersten und einzigen Oscar als bester Hauptdarsteller.
Jean-Paul Sartre (45) wird bei einer Besprechung der nächsten Nummer der Zeitschrift Les Temps Modernes im Hause der Éditions Julliard an der Avenue Marceau von seinem Redaktionskollegen Maurice Merleau-Ponty hart attackiert. Merleau-Ponty ist nicht mehr bereit, den von Sartre eingegangenen Schulterschluss mit der kommunistischen Partei Frankreichs in Les Temps Modernes mitzutragen. Sartre setzt sich bei der Gesamtredaktion durch, und seine Artikelserie Les Communistes et la paix wird ein paar Monate später publiziert. Es kommt zum Bruch der beiden langjährigen Freunde und Weggenossen. 1953 verlässt Merleau-Ponty die Direktion von Les Temps Modernes. Einige Jahre vorher ist schon ein anderer ehemaliger Freund Sartres, Raymond Aron, aus ähnlichen politischen Gründen aus der Redaktion ausgeschieden.
Bertolt Brecht (52) sitzt mit dem Publizisten und Theatermanager Alfred Mühr bei einem Bier im Dallmayr in München. Er wohnt und arbeitet in der vor einem Jahr gegründeten DDR, hat aber noch keine Spielstätte. Die Mühlen der DDR-Funktionäre mahlen langsam, und er sucht nach Alternativen. Seit zwei Wochen besitzt er die österreichische Staatsbürgerschaft; zu einer Übersiedelung kann er sich aber nicht entschließen. Wie ein Jahr zuvor, versucht er es erneut in München. Er schlägt Mühr vor, eine Gastspieltruppe zu gründen, mit einem Stammensemble in München und DDR-Schauspielern als ständigen Gästen. Das (wenig realistische) Projekt scheitert, und Brecht bleibt in der DDR. Dort erhält er für sein Berliner Ensemble dann 1954 doch noch ein eigenes Haus: das Theater am Schiffbauerdamm.
Walter Benjamin († 1940, mit 58 Jahren). Am Grab Benjamins in Portbou an der spanisch-französischen Grenze legt ein Mann am frühen Abend Blumen nieder. Es ist der österreich-ungarische Schriftsteller Arthur Koestler. Vor gut zehn Jahren, einen Monat vor Benjamins Selbstmord am 26. September 1940, hat Benjamin dem sich ebenfalls auf der Flucht befindenden Koestler in Marseille die Hälfte einer Packung Morphium-Tabletten geschenkt. Die Ration, so hat er dem Freund versichert, reiche aus, »um ein Pferd zu töten«. Koestler hat den Test nicht gemacht. Die andere Hälfte führte zu Benjamins eigenem Tod.
Hannah Arendt (44) schreibt in ihrer Wohnung im Upper West von New York City an ihrem Denktagebuch. Sie hat es vor einigen Wochen begonnen, gleichzeitig mit dem Abschluss ihres Werkes über den Totalitarismus. Die 28 handschriftlichen Notizhefte, die es bis 1973 werden sollen, haben nichts mit einem eigentlichen Tagebuch zu tun. Es sind Überlegungen zu ihrer Arbeit und zum Weltgeschehen. »Denkexperiment und Denkresultate«, wie der Klappentext der posthumen Veröffentlichung sagt. Bald wird ihr Ehemann, der Philosoph Heinrich Blücher, von einer Vorlesung an der New School of Social Research nach Hause kommen, und sie werden wie jeden Abend einen Spaziergang im Riverside Park, entlang des Hudson Rivers, machen.
Simone de Beauvoir (42) sitzt in der Pan-Am-Maschine von Chicago nach New York. »Jamais je ne la reverrai, jamais …«, schreibt sie über die Stadt, die sie eben verlassen hat und die sie eng mit ihrer »amour fou« von 1947 verbindet, Nelson Algren. Der dreimonatige Aufenthalt mit Algren in einer Blockhütte in Miller am südlichen Zipfel des Michigan-Sees war ein Desaster; der Anfang des Endes. Die beiden treffen sich zwar nach 1950 noch je einmal in den USA und in Europa. Aber die »amour contingent« mit Algren ist der »amour nécessaire«, dem unkündbaren Bund mit Sartre, schließlich nicht gewachsen. Wie auch ihre letzte »Übergangsliebe« nicht, die sie zwei Jahre später für einige Jahre an den Journalisten Claude Lanzmann binden wird.
Alberto Giacometti (49). Zwei Uhr morgens im Atelier Giacomettis an der Rue Hippolyte-Maindron 46: Der Bildhauer arbeitet am Text des Katalogs für seine zweite Ausstellung in der Pierre Matisse Gallery in New York vom November: 16 Bronzeskulpturen, sechs Gemälde und eine Zeichnung. Der Text geht als »Zweiter Brief an Pierre Matisse« in die Kunstgeschichte ein. Giacometti beschreibt, was ihn zu den ausgestellten Werken inspirierte, so etwa beim berühmten Le Chariot der Anblick einer mobilen Apotheke bei einem früheren Spitalaufenthalt. Er wird bis etwa fünf Uhr morgens schreiben. Nach dem spartanischen Mittagessen geht es routinemäßig los mit dem Bildhauern. Modell steht sein Bruder Diego, am späten Nachmittag dann bis tief in die Nacht seine Frau Annette.
Henri Cartier-Bresson (42) besucht Henri Matisse in dessen Studio im Hôtel Régina in Nizza. Nach drei Jahren in Asien, mit berühmten Fotoreportagen u.a. in China, Japan, den Philippinen, Iran und zuletzt Indien, ist er im Sommer nach Paris zurückgekehrt. Er beginnt mit der Vorbereitung eines seiner wichtigsten Werke, The decisive Moment (Images à la sauvette), in welchem er eine Auswahl seiner besten Fotos aus Ost und West in den theoretisch-konzeptionellen Kontext seiner Fotografie stellen will. Er bittet Matisse, den Buchumschlag zu gestalten. Der Maler sagt zu; es ist eine seiner letzten Arbeiten. Das Buch erscheint 1952 in New York.
George Balanchine (46). 10 Uhr morgens im Übungslokal des New York City Ballet im City Center of Music and Drama. Maria Tallchief, die erste Primaballerina des NYCB, und Nicholas Magallanes wärmen sich auf. In einer halben Stunde wird der immer pünktliche George Balanchine eintreffen, um mit ihnen erste Passagen seiner neuen Choreografie Sylvia Pas de Deux einzuüben. Er hat das 13-minütige Stück zur Musik von Léo Delibes in zwei Tagen geschrieben. Die Uraufführung geht am 1. Dezember über die Bühne. Tallchief sagt in einem Interview über den Choreografen: »George was a poet and he told us how to become part of his poetry.«
Igor Strawinsky (68). Ein unaufgeregter Tag für Strawinsky. Frühstück mit seiner Frau Vera im Garten seines Hauses in Hollywood. Um 13 Uhr wöchentliches Mittagessen mit dem britischen Schriftsteller Aldous Huxley, eigentlich sonst immer am Samstag, in dieser Woche aber auf Mittwoch vorverschoben. Die beiden diskutieren den Koreakrieg und US-Präsident Harry S. Trumans Entscheid, das Militärbudget der USA um USD 17 Milliarden aufzustocken. Ab 16 Uhr dann doch noch etwas Arbeit. Mit seinem Mitarbeiter Robert Craft diskutiert er die ersten Takte des zweiten Satzes seiner im Entstehen begriffenen Oper The Rake’s Progress. Sie wird ein Jahr später im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt. Für das Libretto verantwortlich ist ein anderer Bekannter aus seinem großen Hollywood-Freundeskreis, W. H. Auden.
Duke Ellington (51). Gute Nachrichten für den Duke. Paul Gonsalves ruft an, einer der großen Tenorsaxofonisten dieser Zeit, langjähriges Mitglied des Count Basie Orchestra, um ihn anzufragen, ob er in Zukunft bei ihm spielen könne. Ellington engagiert ihn ab dem 1. Dezember. Verstärkung mit bekannten Musikern wird überlebenswichtig. Die große Zeit der Big Bands ist vorbei, zumindest in den USA. Zu Beginn des Jahres kann Ellington auf seiner Tour in Europa zwar noch Triumphe feiern, in den USA kommt er in den nächsten Jahren aber nur noch mit Schwierigkeiten zu Spielgelegenheiten. Er wird nie mehr an seine Erfolge der 1930er- und 1940er-Jahre anknüpfen können. Im Jazz ist der Bebop König, mit Musikern wie Dizzy Gillespie, Miles Davis und John Coltrane. Und es kommt die Zeit des Rock’n’Roll. 1956 erscheint das erste Album von Elvis Presley.
Ein Gruppenfoto der dreizehn wäre schön, mit dem Jüngsten, Mailer, zur Linken und dem Ältesten, Strawinsky, zur Rechten. Aber zum einen würde Walter Benjamin fehlen, und zum andern wollen wir mit Semifiktivem auch nicht übertreiben …
Bildlegende: links: Brooklyn Hights Promenade mit Blick auf Manhattan, New York City. © Wikimedia Commons; Mitte: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir am Denkmal von Balzac. © Wikimedia Commons; rechts: Duke Ellington. © Wikimedia Commons.
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