Im Sommer 1900 unterzogen sich am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich fünf Studenten und eine Studentin der Diplomprüfung an der Abteilung für Fachlehrer in Mathematik und Physik. Die fünf Studenten waren erfolgreich, die Studentin bestand die Prüfung knapp nicht. Drei der Prüflinge wurden später Hochschulprofessoren, einer davon sogar ein Nobelpreisträger.
Die Namen sind wohlbekannt: Albert Einstein erhielt 1922 den Nobelpreis in Physik, die beiden Studienkollegen Marcel Grossmann und Louis Kollros wurden 1907 bzw. 1909 Professoren am Eidgenössischen Polytechnikum. Die Studentin war Mileva Mari; nur kurze Zeit nach der Prüfung heiratete sie Albert Einstein.
Während des Studiums waren sich die sechs Studierenden nahegekommen. Einstein, dem der strikte Vorlesungsbetrieb wenig zusagte, stützte sich stark auf seinen Kollegen Marcel Grossmann ab, der ihm für die Vorbereitung zu den Prüfungen seine perfekt ausgearbeiteten Vorlesungsmitschriften zur Verfügung stellte. Die Freundschaft überdauerte die Studienzeit über viele Jahre, wie ein umfangreicher Briefaustausch belegt. Bereits kurz nach Studienabschluss war Grossmanns Vater Einstein behilflich, eine Stelle beim Patentamt in Bern zu erhalten. Im Jahre 1905, als Beamter am Patentamt, verfasste Einstein in einer wahren Explosion von Kreativität mehrere wissenschaftliche Arbeiten, die seinen Ruhm begründeten. Gerne spricht man in diesem Zusammenhang vom annus mirabilis Einsteins. Eine der vier Arbeiten reichte er als Dissertation für das Doktorat an der Universität Zürich ein. Für eine zweite erhielt er Jahre später den Nobelpreis für Physik, und zwar »für seine Verdienste um die theoretische Physik, besonders für seine Entdeckung des Gesetzes des photoelektrischen Effekts«. Die längerfristig bedeutendste der Arbeiten war aber zweifellos diejenige zur Speziellen Relativitätstheorie.
Aber nicht nur in Bern bei Einstein, sondern auch in Zürich tat sich einiges: Im Jahre 1905 feierte das Eidgenössische Polytechnikum mit einem großen Fest sein 50-jähriges Bestehen. An die 2000 Personen nahmen am Festumzug teil, der vom Semperbau des Polytechnikums via Leonhardstraße, Bahnhofstraße und Quaibrücke in eine Festhalle auf dem Platz vor dem Stadttheater, dem heutigen Opernhaus, führte. Am Abend schloss sich ein Festbankett in der Tonhalle an, an dem fast 1200 Personen teilnahmen. Der Abend klang aus mit einer Dampferfahrt auf dem Zürichsee und einem geselligen Beisammensein im Tonhalle-Garten. Es kann nicht verwundern, dass in den Berichten über diesen Anlass von erheblichen Feststrapazen die Rede ist.
Das Polytechnikum hatte sich in den Jahren seines Bestehens eine große nationale und internationale Reputation erworben. Die Auffassung setzte sich mehr und mehr durch, dass der bescheidene Name der Schule ihrer Geltung nicht mehr ganz entsprach. Eine Wandlung war angezeigt. Bis anhin besaß das Polytechnikum zum Beispiel kein Promotionsrecht, sodass, wie beim Doktorat Einsteins, die Universität einspringen musste. Dies änderte sich jetzt: Das neue Reglement von 1908 verlieh der Schule das Recht, Doktorpromotionen durchzuführen. Zusätzlich wurde 1911 der Name in Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) abgeändert. Hatten bisher einzelne Universitätsangehörige etwas abschätzig auf das »verschulte« Polytechnikum herabgesehen, so war dieses nun auch dem Namen nach eine gleichrangige »echte« Hochschule.
Die Zahl der Studierenden nahm in jenen ersten Jahren des Jahrhunderts an beiden Hochschulen stark zu, sodass der alte Semperbau, in dessen Südteil auch die Universität Gastrecht besaß, nicht mehr genügend Platz bot. Die Universität erhielt nun unmittelbar neben dem Polytechnikum ein eigenes Vorlesungsgebäude. Die Ausführung wurde dem Architekten Karl Moser übertragen; dank eines raschen Baufortschritts konnte die Einweihung bereits 1914 stattfinden. Auch die ETH benötigte mehr Raum. Der Architekt Gustav Gull erweiterte den alten Bau von Gottfried Semper aus dem Jahr 1864 durch zwei Seitenflügel in Richtung Rämistraße und verband diese durch einen markanten Mittelteil mit einer weithin sichtbaren Kuppel. Die Bauarbeiten begannen 1915, sie verzögerten sich aber wegen des Ersten Weltkrieges, sodass das Gebäude erst 1924 fertiggestellt werden konnte.
Albert Einstein wurde 1909 als außerordentlicher Professor an die Universität Zürich berufen. 1911 folgte er dann einem Ruf als ordentlicher Professor an die deutsche Universität in Prag, aber schon 1912 kam er wieder in die Limmatstadt zurück: Er wurde nun Professor für Physik an der ETH, wo auch seine ehemaligen Studienkollegen Marcel Grossmann und Louis Kollros ihre Professuren ausübten. So war ein Teil der ehemaligen Studienkollegen am alten Ort wieder vereint. Leider blieb Einstein nicht lange an der ETH: bereits 1914 trat er sein neues, mit viel Prestige verbundenes Amt als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Physik in Berlin an. In den folgenden Jahren kehrte er allerdings mehrfach für Gastvorlesungen nach Zürich zurück.
1910 gründete Marcel Grossmann zusammen mit Rudolf Fueter (damals Universität Basel) und Henri Fehr (Université Genève) die Schweizerische Mathematische Gesellschaft. Damit schuf man ein gesamtschweizerisches Gremium, das zur Förderung der Mathematik im nationalen und internationalen Rahmen dienen sollte. Die gesamtschweizerische Abstützung wurde insbesondere während des Ersten Weltkrieges wichtig, als die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich die Atmosphäre zwischen dem deutsch und dem französisch sprechenden Landesteil zu vergiften drohten. Die Schweizerische Mathematische Gesellschaft bildete für Grossmann in der Folge auch eine Plattform, um gemeinsame schweizerische Vorschriften für die Maturitätsschulen zu erarbeiten. Besonders die ETH betrachtete dies wegen der Frage der alten Sprachen als eine wichtige Angelegenheit. Leider erreichte Grossmann in dieser Richtung trotz langjähriger Anstrengung kein befriedigendes Resultat. Eine allgemeine gesamtschweizerische Maturitätsverordnung wurde erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen.
Einstein arbeitete in der Zeit nach 1910 an einer Erweiterung seiner Speziellen Relativitätstheorie. Aber offenbar fehlten ihm zur Lösung die mathematischen Hilfsmittel. So wandte er sich angeblich mit folgenden Worten an seinen ehemaligen Studienfreund: »Grossmann, Du musst mir helfen, sonst werd’ ich verrückt!« Marcel Grossmann war dank seiner detaillierten Kenntnisse der neueren Differenzialgeometrie tatsächlich in der Lage zu helfen. Das Resultat war die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit von 1913, in der Einstein und Grossmann eine erste Fassung der Allgemeinen Relativitätstheorie veröffentlichten. In der autobiografischen Skizze, die Einstein vierzig Jahre später verfasste, sprach er vom Bedürfnis, meiner Dankbarkeit für Marcel Grossmann Ausdruck zu geben.
Leider erkrankte Grossmann in den 1920er-Jahren schwer; starke Lähmungserscheinungen zwangen ihn 1927 zur Aufgabe seiner Professur an der ETH. Nur wenige Jahre später starb er.
Noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges, 1913, holte die ETH den jungen, damals schon berühmten Mathematiker Hermann Weyl aus Göttigen als Professor nach Zürich. In den Folgejahren prägte Weyl das mathematische Leben Zürichs in einem außerordentlich starken Maß. Seine Interessen erstreckten sich dabei auch auf physikalische und philosophische Themen; so verfasste er 1918 das epochemachende Buch »Raum, Zeit, Materie«, in dem er die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins zusammenfassend darstellte.
Wie dieses Beispiel zeigt, setzte sich die physikalisch-mathematische Zusammenarbeit, die mit der gemeinsamen Veröffentlichung von Einstein und Grossmann im Jahre 1913 einen weithin sichtbaren Anfang genommen hatte, in Zürich in den nachfolgenden Jahren – sogar bis heute! – fruchtbar fort.
Prof. Urs Stammbach war 1979–2005 Professor am Departement of Mathematics an der ETH Zürich. 1990/91 hatte er das Präsidium der Schweizerischen Mathematischen Gesellschaft inne.
Bildlegende: Marcel Grossmann, Albert Einstein, Gustav Geissler und Eugen Grossmann, Rosenau, Thalwil (v. r. n. l., 1899). Privatbesitz Familie Grossmann
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