Wer sich Romantikerin nennt, wird gerne belächelt. Denn werden Beziehungen heute nicht so schnell aufgelöst wie eingegangen? Da kann man doch nicht mehr ernsthaft an die Liebe glauben! Dieses Widerspruchs ist sich der romantische Mensch aber bewusst. Und glaubt deswegen nicht weniger an die großen Gefühle.
Es war ein paar Jahre später, nachdem alles begann. Ich fuhr im Tram durch Zürich und dachte: »Was, wenn jetzt ein Meteorit auf die Erde einschlagen würde und auch dieses Tram und mich träfe und wahrscheinlich auch ihn, der bei der Arbeit ist – und uns für immer trennen würde?« Ich weiß noch, wo ich damals vorbeifuhr, und natürlich wusste ich auch, wie absurd der Gedanke war. Anhand dieser Erinnerung lässt sich jedoch gut erklären, warum ich eine Romantikerin bin.
Neigung zum Drama
Als Romantikerin muss man eine Neigung zum Drama haben. Der plötzliche Schrecken, der mich dort unter den Passagieren ergriff, während Häuserfassaden und Baumalleen vorbeizogen, war echt, hatte aber auch etwas Lustvolles, da Tiefes. Es war eine größenwahnsinnige Fantasie: Unter einem Meteoriten mache ich es nicht. Nur ein Meteorit kann uns trennen, nur dieses himmlische Gestein bedroht die Liebe, die sonst stärker ist als alles.
In diesem Moment rief ich alle großen Gefühle ab. Ich fühlte groß bei der Vorstellung, dass sich etwas so Dramatisches ereignen könnte. Als Liebende ist man gefährdet – dieses Wissen inszenierte ich in der fantasierten Katastrophe. Der mögliche Verlust ist Teil der Liebe. Das hat sich mir früh eingeprägt. Schon als Kind hatte ich Angst vor dem Weltuntergang, oder dass ein Krieg oder eben etwas, das auf unser Haus fällt, mich von meinen Eltern trennen könnte. Die Katzen, mit denen ich aufwuchs, waren dann die ersten Liebesobjekte, an denen ich Gefühle wie Trauer und Schmerz erprobte: Je fragiler ihre Überlebenschancen wegen Krankheiten oder der nahen Hauptstraße waren, desto stärker hängte ich mein Herz an sie. Als hätte ich schon damals gewusst, dass die Bedrohung eine Liebe intensiviert.
Glaube an die Liebe
Das gilt auch für die romantische Liebe, wie sie in Literatur und Film dargestellt wird. Bis zwei Menschen zueinanderfinden, stellen sich ihnen nahezu unüberwindbare Hindernisse in den Weg. Solche Erzählungen hatten offensichtlich einen Einfluss auf meinen Glauben an die Liebe. Und das ist man ja als Romantikerin: gläubig. Die Geschichten geben einem eine Vorlage für das eigene Gefühlserleben, werden zum Maßstab dafür. Filme wie »In the mood for Love« von Wong Kar-Wai oder der Roman »Animal triste« von Monika Maron formten mein Begehren mit. Die Kultur offeriert Bilder und eine Sprache, auf die man zurückgreift, wenn man selber eine Liebesgeschichte erlebt. Diese kommt einem dann filmisch vor, literarisch – mein Roman.
Es gibt noch eine Ebene, denn es würde mir nicht reichen, die Werke bloß zu konsumieren: Erst durch das eigene Schreiben hat sich meine romantische Seite herausgebildet. Ich erlebe etwas, um es aufzuschreiben, sage ich, eine Tagebuchschreiberin, manchmal. Ich schreibe es auf, um noch einmal durch die Gefühle hindurchzugehen, ihnen eine sprachliche Form zu verpassen, sie zu gestalten. »Die Liebe liegt in der Sprache, oder sie existiert nicht«, hat die Schriftstellerin Undine Gruenter geschrieben. Den Satz beziehe ich vor allem auf die geschriebene Sprache. Ich habe ihn immer als Aufforderung verstanden, von der Liebe zu schreiben.
Sehnsucht über Erfüllung stellen
Deswegen schreibe ich wohl meine Kolumne »In jeder Beziehung«. Diese würde ich aber nicht »romantisch« nennen, zumal es darin nicht nur um Liebesglück oder das Leiden an der Liebe geht. Wenn, dann schreibe ich der Liebe vielmehr hinterher, als dass ich über sie schreibe. Man kann trotzdem eine Romantikerin sein: Der Liebe nachzuschreiben bedeutet, die Sehnsucht über ihre Erfüllung zu stellen. Das treibt das Schreiben an.
Wer die romantischen Komödien des Hollywood-Kinos gerne schaut oder die Romane von Rosamunde Pilcher liest, ist zwar gewiss nicht weniger romantisch. Aber mein Selbstverständnis geht abzüglich des Happy Ends. Ich mochte Märchen nie, sie waren mir zu weit weg von der Wirklichkeit. Wenn Prinzessin, dann nicht eine vom Prinz Erlöste. Was bleibt einem, einmal erlöst? Was gäbe es dann noch aufzuschreiben? Das mag nun auch meine zerstörerische Meteoriten-Fantasie erklären.
Weil die eigenen Gedanken und Gefühle in Büchern und Filmen eine Resonanz finden, nehme ich sie in meinen Kolumnen oft als Ausgangspunkt. Oder ich verweise auf sie, um zu veranschaulichen, was mich beschäftigt. Julian Barnes, für mich ein großer Romantiker, fragt am Anfang seines Romans »Die einzige Geschichte«: »Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden oder weniger lieben und weniger leiden?« Er gab mir mit dem Satz das nächste Kolumnenthema. Ich spielte die unmögliche Frage in Gedanken durch, um zum Schluss zu kommen: »Erfüllung wird überschätzt.« Beschädigtes Glück als romantische Prägung.
Das Zurückdenken an den massigen Einschlag im Tram hat schließlich noch mit einem Wesenszug zu tun: Romantiker und Romantikerinnen sind vergangenheitstüchtig. Ich rufe oft »alte« Gefühle ab, indem ich zurückblicke. Das geht so gut, weil ich vieles aufgeschrieben habe und die Intensität des festgehaltenen Moments leicht wiederaufzufinden ist. Der Blick zurück macht wehmütig, auch muss man aufpassen, dass man nicht verklärt und sentimental wird. Zum romantischen Wesen gehört die Erkenntnis, dass es keine Gegenwart frei von der Vergangenheit gibt. Darauf beruht seine Melancholie.
Verklärung hat ihr Gutes
Diese Melancholie trägt wiederum zum Ich-Gefühl bei und festigt im besten Fall das Fundament einer Beziehung, für einmal psychologisch gesprochen. Man hängt an Erinnerungen, vergegenwärtigt sich den Anfang einer Liebe und erzählt ihn sich immer wieder. Dabei hat sogar Verklärung ihr Gutes. Denn der Liebesmythos, den man sich schafft, hat die Funktion, dass man als Paar seinen Ursprung nicht vergisst. Die empfundenen Gefühle damals im Tram werden durch eine mögliche idealisierte Erinnerung umso schützenswerter. Ob es ein Kieselstein war, der in der Erzählung zum Meteoriten auswuchs, spielt keine Rolle. Die Anekdote ist erinnerungswürdig, sie bestätigt das Glück, geliebt zu haben und zu lieben.
»Warum bist du so romantisch, da doch sonst geerdet?«, werde ich manchmal gefragt. Darauf antworte ich, und das habe ich zu erläutern versucht: Ich bin trotzdem eine Romantikerin. Obwohl sich die Geschichten heute gleichen, wenn man jemanden danach fragt, wie alles begann: im Internet. Obwohl im Zeitalter des Online-Datings Beziehungen zu Ende sind, bevor sie angefangen haben. Und fast jede zweite Ehe geschieden wird. Ich verteidige die großen Gefühle im Wissen, dass die Schwerkraft des Alltags auf die Liebe einwirkt und diese zu einem Leben mit gemeinsamem Bankkonto und in Finken führen kann. Trotz des streitenden Paars in einer meiner Kolumnen, das nach einem Abend mit Freunden schweigend im Taxi nach Hause fährt. Trotz der Frau und des Mannes am Nebentisch in den Ferien am Meer, die nur Blicke für ihre Smartphones haben. Trotz all den anwesenden Dritten, die in einer Beziehung unsichtbar bleiben. Es gibt vieles, was die Romantik stört, bedroht oder widerlegt. Diese Wirklichkeit spare ich nicht aus. Und glaube weiter an die Liebe.
Bildnachweis: © Laila Defelice
rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH | Alderstrasse 21 | CH-8008 Zürich | +41 (0)44 381 77 30 |