Als einer der führenden Köpfe der Schweizer Wirtschaft sorgte er in den 1990erJahren mit seinen unangepassten Auftritten für Diskussionsstoff. Nun hat sich der Unternehmer und Nuclear Engineer Hans Widmer nichts Geringeres vorgenommen, als ein umfassendes Erklärungsmodell der Welt vorzulegen. Dieses belegt, was Lichtenberg in eines seiner Sudelhefte notierte, dass »im Grunde alle Menschen gleich glücklich sein können«.
»Humanismus steht, verdichtet, für das Bemühen um artgerechte Lebensinhalte und Gesellschaftsbedingungen. Von Horaz bis in den deutschen Idealismus im 18./ 19. Jahrhundert wurde Humanismus poetisch und emphatisch besungen, um der Realität aufs Tragischste zu unterliegen: Statt der hohen Ideale dominierten Kriege, Genozide, Kommunismus, Nationalsozialismus. Allmählich verstummten die Hymnen, nach dem Zweiten Weltkrieg gar radikal. Das humanistische Ideal war nicht falsch, doch genügte es nicht, das Wünschbare zu wünschen.
Konsequenter Humanismus ist derjenige Idealismus, der konsequent vom Vermögen ausgeht, das den Menschen definiert: Erkenntnis. Tragfähig ist nur, was auf Erkenntnis baut – auf diejenige Vorstellung der Wirklichkeit, die von der Wirklichkeit bestätigt wird. Das Modell ergibt unausweichlich, dass individuelles Glück nicht geringer ausfallen muss als das kühner Träume, vorausgesetzt, Menschen sind zweckmäßig organisiert, wissen, was gewusst werden kann, verwirklichen ihre Vorsätze; Gesellschaften sind zweckmäßig organisiert, wenn Individuen selbst bestimmen, was sie selbst bestimmen können; ebenso Gemeinden, Provinzen, Staaten; und Staaten damit im Dienst der Entfaltung ihrer Bürger stehen.«
AR: Dieser kurze Ausschnitt aus Ihrem Buch deutet bereits an, dass jedem, der sich als mitverantwortlich für das Funktionieren einer Gesellschaft betrachtet, noch viel Arbeit bevorsteht.
HW: Die grundlegende Arbeit besteht im Erwerb von Erkenntnis: So wie der Uhrmacher verstehen muss, wie eine Uhr funktioniert, so sollten wir Menschen verstehen, wie Leben und der Mensch, insbesondere sein Denken, das sich all die Erkenntnis zurechtlegt, funktionieren. Daraus leitet sich fast von selbst ab, wie eine Gesellschaft zu organisieren ist, wie das Individuum handeln soll und was es hoffen kann. Die nächste große Arbeit besteht im Durchhalten der Einsichten über den Tag und den eigenen Nutzen hinaus, was eine emotionale Leistung ist. Wer sich den Erfolg daraus vorstellen kann, hat auch die Kraft dazu – in jedem Kulturkreis.
AR: Immer wieder erscheinen Bücher, die behaupten, das gesammelte Wissen über ein bestimmtes Gebiet, einen Begriff zu beinhalten. Wie lautet Ihr Versprechen an die Leser?
HW: Das Modell verspricht gerade nicht gesammeltes Wissen, sondern einen Standpunkt, von dem aus eine Übersicht möglich ist. »Viel Wissen ergibt noch keine Weisheit«, sagte Heraklit. Es bereitet wissenschaftliche Erkenntnis so auf, dass sich der gesunde Menschenverstand diese mit intuitiver Logik aneignen kann – dass er verstehen, statt bloß glauben kann. Gegenstand ist jedoch das Ganze, und das ist kein Spaziergang.
AR: Das Ganze?
HW: Ziel ist tatsächlich die Erklärung des »Ganzen« – von Relativitätstheorie über Leben, Denken, Freien Willen bis zu direkter Demokratie und Staatenverein. Das Modell versucht, mit dem Minimum an Erkenntnissen auszukommen, das dieses Ganze schon beschreibt. Dafür war das gegenwärtig gültige Wissen nur die wunderbare Ausgangsbasis: Dieses war zu verdichten und zusammenzufügen. Der Konsequente Humanismus ist eine Synthese, aus der sich grundlegend Neues ergab; selbst Physik verlor alle Rätselhaftigkeit, weil davon ausgegangen wurde, wie sie gedacht wird. Aus der ursprünglichen Absicht, selber den Überblick zu gewinnen, entwickelte sich eine missionarische, da sich herausstellte, dass alle Menschen zur Erfüllung gelangen könnten, wenn sie nur wüssten, wie sie es anstellen sollen, individuell und – aus historischer Sicht schier unendlich schwierig – auf kollektiver Ebene.
AR: Und Sie haben die Lösung dazu?
HW: Die Lösung kann man sich nicht aus dem Daumen saugen, aber man kann die Wirklichkeit befragen. Sie gibt, über Wissenschaften, Auskunft über die Natur des Menschen und sein Denken, über die Herkunft seiner Sehnsüchte und die grundsätzliche Möglichkeit ihrer Erfüllung. Allerdings nur »grundsätzlich« – konkret steht jeder Mensch stets vor Wegscheiden, Wagnissen, Enttäuschungen etc. Das Modell bietet eine Landkarte – seinen Weg muss jeder Mensch selber finden, selber gehen, selber aushalten. Aber er weiß, wo er steht.
»Das Modell des Konsequenten Humanismus legt sämtliche Erkenntnisse dafür vor, das Werden von allem – von Materie aus dem Nichts, von Leben aus Materie, von Geist aus Leben – nachzuvollziehen, bis hin zur Art und Weise, wie das Selbst dies alles denkt. Der Mensch erscheint auf dieser Basis als ein Evolutionssprung so radikal wie Leben selbst, und Freier Wille als die offene und zu verantwortende Wahl der nächsten Handlung, was über den ganzen Lebensweg zur Identität führt. Glück erscheint als bewusst gewordene physiologische Belohnung lebensförderlichen Handelns, und der zweckmäßige Staat als der Rahmen dafür, dass alle Menschen gleich glücklich sein könnten.«
AR: Diesem hoffnungsfrohen Schlussbild aus Ihrem Buch liegt die Annahme zugrunde, dass der Mensch einen Freien Willen habe – den Kant zwar kaltblütig voraussetzte, den die heutige Wissenschaft jedoch arg bezweifelt.
HW: Aller rationalen Klärung des Freien Willens kam bisher das Kausalitätsprinzip in die Quere: Wenn Freier Wille eine Ursache habe, ob in der Persönlichkeitsstruktur oder in den Umständen, so sei er nicht frei; wenn Wille buchstäblich ungebunden sei, sei er auch nicht dem Träger anzurechnen, wodurch jede Verantwortung dahinfalle. Ja: Kant machte kurzen Prozess und erklärte den Freien Willen für »völlig unentbehrlich«, zugleich für »völlig unerklärlich … keiner empirischen Darstellung zugänglich«, hingegen »a priori gewusst«; heutzutage reduzieren prominente Hirnforscher wie Gerhard Roth Freien Willen auf ein »Epiphänomen«: das Bewusstsein meine nur zu entscheiden, und setzen mit diesem Befund zur »Zertrümmerung des Mythos des Selbst« an.
Im Modell des Konsequenten Humanismus geht Freier Wille zwingend aus Folgendem hervor: Wenn Denken der Prozess ist, der durch Rekombination von Wissen ungebunden Handlungsalternativen generiert, dann ist Freier Wille der »unentbehrliche« Prozess, der die Alternativen bewertet, wählt und deren Umsetzung aushält.
Die nächste Handlung ist nicht vorbestimmt, sie ist offen im Ausgang, und sie ist vom Subjekt zu verantworten: Das ist, was jedermann an sich wahrnimmt. Der Mensch kann seinem Freien Willen nicht entrinnen, er steht eigentlich unter »Wahlzwang«; Ratlosigkeit ist die negative Empfindung von Willensfreiheit.
AR: Dann ist der Wille doch nicht frei?
HW: Dies ist die entscheidende Differenzierung: Der Wille ist frei für den nächsten Schritt – jedoch nicht frei in Bezug darauf, was die Anlagen, Prägung und Erfahrungen des Subjekts sind. Die Entscheidung über den nächsten Schritt leitet eine neue Erfahrung ein, und zunehmend wird das Subjekt durch seine Entscheidungen geprägt.
AR: Das Bewusstsein erscheint in Ihrer Darstellung wie im Schraubstock: von innen drängen Gefühle und Sehnsüchte, und draußen in der Welt stellen sich Widerstände entgegen. Das ist doch das Leid, das der Buddhismus oder Schopenhauer sahen?
HW: Keineswegs: Wird die Funktion von Gefühlen als das angenommen, was sie ist: als Aufforderung zum Handeln, verliert solcher Pessimismus die Legitimation. Not macht gewiss nicht froh, aber dass Not erfinderisch macht, trifft den Nagel auf den Kopf. Ohne Gefühle und Sehnsüchte verlöre die Vernunft ihre Auftraggeber – und ohne Vernunft verlören Gefühl und Sehnsucht jegliche Funktion.
AR: Sie leiten das, was am Freien Willen wirklich frei ist, zwar ab, doch wo bleibt der Freie Wille von Sklaven, zu Haustieren degradierten Frauen, verprügelten Kindern, Verwahrlosten, aus allen Netzen Gefallenen?
HW: Dafür gibt es keinen Trost, nur die Anstrengung der Unversehrten, solches Unheil zu verhindern.
AR: Sei Freier Wille akzeptiert – doch was fängt der Mensch damit an? Woran orientiert er sich, wenn er doch ungebunden ist?
HW: Zunächst entstammen die großen Imperative den Instinkten, unentrinnbar: »Sich ernähren, Kinder zeugen, diese ernähren«, wie Goethe schrieb, auch Mutterliebe, Sorge um den Nächsten, Gerechtigkeit – die Spezies würde ohne sie nicht überlebt haben. Danach wirkt Prägung: Kinder wählen zu Beginn ihres Lebens nichts selber, weder Muttersprache noch Sitten noch Erwartungen. Erst allmählich im Heranwachsen entwickelt und entfaltet sich Selbstbestimmung.
AR: Wieso halten Sie Selbstbestimmung für eine Grundvoraussetzung für individuelle Erfüllung?
HW: Vernunft macht den Menschen aus, und seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung muss ausgelebt werden können. Ohne Selbstbestimmung entfällt jede Idee von Verantwortung, ohne Verantwortung jede Idee von Ethik. Selbstbestimmung macht froh – selbst Mitbestimmung trägt, wie Ernst Fehr gezeigt hat, zum Glück bei.
AR: Bedeutet das übertragen auf die Wirtschaft: Manchester-Liberalismus?
HW: In keiner Weise: Liberalismus setzt den starken Staat voraus, der unnachgiebig die Wirtschaft reguliert. Der Staat ist zuerst, und nur dieser kann überhaupt den Raum für Selbstbestimmung definieren und sichern – ohne Staat herrscht Dschungel: Unternehmen würden Mitarbeiter ausbeuten, ganze Branchen die Umwelt zerstören, Monopole Konsumenten übervorteilen etc. Es ist ein grober Denkfehler, Freiheit zuerst zu setzen und dann, als notwendiges Übel, noch ein bisschen Staat. Aber Achtung: starker Staat heißt unnachgiebige Regeln, nicht Intervention, Merkantilismus, staatliches Unternehmertum und dergleichen.
AR: Was erwartet in Ihrem Staat die Schwachen, Benachteiligten?
HW: Ich sage es ohne Umschweife: Umverteilung. Je ausgeprägter die Globalisierung und damit die Arbeitsteilung, je rascher die Innovationsschübe, je kräftiger Entwicklungsländer einsteigen, desto labiler alle Beschäftigung – nicht nur im Westen. Die Vorteile der Globalisierung sind gigantisch, die Opfer im Sinn von Unvorhersehbarkeit ebenso. Deshalb muss ein Staat Umverteilung sicherstellen. Das Problem: Wer weiß in der sich zunehmend vereinzelnden Gesellschaft, wer Unterstützung verdient und wer nur Trittbrettfahrer ist? Für die verlorene soziale Kontrolle, der in überblickbaren Gemeinschaften wie dem Dorf und in intakten Familien niemand entging und aus der niemand fiel, wurde noch kein tragfähiges Substitut gefunden.
»In ihrem Streben nach Glück erfahren Menschen: kaum ist das Erstrebte erreicht, beginnt alles erneut. Ebenso scheint es unendlich viel mehr Streben als Erfüllung zu geben. Das widerspiegelt exakt das Prinzip ersten Lebens: Wenn sich ein Negativ um die Strukturen des Positivs einer DNA geschlungen hat, ist dieses keineswegs ›erlöst‹. Die Spannung ist zwar aufgehoben, doch spaltet sich die Double-Helix sogleich auf, und es liegen nun zwei offene Strukturen vor, die umschlungen sein ›wollen‹. Anscheinend kann Glück kein permanenter Zustand sein. Was sonst? – Da Denken selektiert wurde, weil es eine Fähigkeit ist, nämlich lebensförderliche Handlungen anzustoßen, wird es, wie alle Fähigkeiten, motiviert und belohnt. Glück ist die Bewusstwerdung dieser Motivation und Belohnung und hat demnach eine lenkende Funktion. Es stellt sich nach erfolgreicher Handlung ein, um die Erfahrung ins Unbewusste einzuspeisen und dort zu verankern. Das Unbewusste lernt auf diese Weise ohne Dazutun des Bewusstseins, erfolgreiches Handeln und Verhalten unter wiederkehrenden Umständen zu wiederholen. Spiegelbildlich ruft Misserfolg negative Gefühle hervor, und das Unbewusste lernt, solchen künftig zu vermeiden.«
AR: Sie bezeichnen »Glück« als den Kollateralgewinn lebensförderlichen Handelns. Was ist genau darunter zu verstehen?
HW: Kollateral bedeutet: nicht Ziel von Handlung, sondern Nebeneffekt. Ziele sind in normalen Verhältnissen lebensfreundliche Handlungen – unsere Antriebe drängen in diese Richtung –, jedoch basiert das, was als Glück empfunden wird, nicht auf einer rationalen Erfolgsbuchhaltung, sondern auf der Ausschüttung von Hormonen, denselben Hormonen, die in der Physiologie von Lernen wirksam werden. Glück ist eine Stimmung, und ausgelöst wird sie als Nebeneffekt lebensfreundlichen Handelns.
AR: Was antworten Sie denjenigen, die stets die Nieten ziehen, die offenbar vom Pech verfolgt scheinen?
HW: Glückhafte Umstände können keine »lenkende Funktion« haben, sondern führen bloß ohne Aufwand zu begehrten Ergebnissen. Lotteriegewinner, Erben großer Vermögen, protegierte Angestellte in Staatsdienst, Kirche, Wirtschaft sind nachweislich nicht glücklicher als Menschen ohne solche Begünstigungen. Reich lässt es sich gewiss angenehmer leben als arm, auch mögen glückhafte Umstände die Chancen zur Entfaltung der eigenen Kräfte erhöhen: Glück im Sinn von felicitas resultiert jedoch aus entfalteten Kräften, die Physiologie von Glück lässt nichts anderes zu, und alles Glück aus glückhaften Umständen allein verraucht umgehend.
Zwar schränken Behinderung, Verhinderung durch Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung, Krankheit, Verstümmelung oder Psychotrauma die Entfaltung der eigenen Kräfte ein; doch von da an, wo die Einschränkung – nach Trauerarbeit, oft am Abgrund – akzeptiert worden ist, beginnen sie sich von neuem zu entfalten und führen entsprechend zu Glück.
AR: Würden Sie »Glück« und »Erfüllung« gleichsetzen?
HW: Glück resultiert aus vielem, auch Kleinigkeiten, Erfüllung hingegen ist Vollbringen des Lebensganzen.
AR: Ist in Ihrem Modell auch das Glück des Tüchtigen vorgesehen?
HW: Alles Glück ist letztlich Tüchtigkeit zuzuschreiben, da Glück nur aus entfalteten Kräften herrühren kann – und das heißt: aus Anspannung, Anstrengung, Risiko, Verzicht.
»Die Vernunft hilft als Navigationsgerät dem unschuldigen, innersten Wesen durch die von Menschen geschaffene Welt; je tragfähiger die Erkenntnis, desto sicherer. Zudem leitet Vernunft das Individuum nicht nur an, sich in dieser Welt zurechtzufinden, sondern auch das Innerste in seiner Reinheit, Weisheit und Lebensfreundlichkeit zu erkennen und zu wecken. Somit legt Vernunft das Göttliche im Menschen frei, weist den Weg, über alles Drängen und Sperren in Gemüt und Welt hinweg, zum eigentlichen, unermesslichen, unveräußerbaren Besitz: der verständigen, beständigen, bejahenden Persönlichkeit.«
AR: Die Persönlichkeit, die Sie beschreiben, entspricht sie Sartres Proklamation, dass der Mensch nichts ist »als was er aus sich selbst macht«? Und wie, woraus formt sie sich?
HW: Sartre hat übertrieben: Am Anfang aller Persönlichkeitsentwicklung stehen Anlagen und Prägung. Aber die Summe aller freien Entscheidungen über die Lebensspanne führt zur Persönlichkeit – je kohärenter, je harmonischer mit der eigenen Natur und Welt im Einklang, je vernünftiger im Sinn von Gratifikationsaufschub, desto kraftvoller. Wie kraftvoll zeigt der Umgang mit dem Tod: Die große Persönlichkeit stirbt an Erfüllung – nicht an Ermattung.
AR: Erfüllung wovon?
HW: Des Versprechens, das seine Anlagen und ihre Möglichkeiten in der Welt bedeuten, die der Heranwachsende zu Beginn seines Lebens ahnt.
AR: Ihr Humanismus will offensichtlich mit alten Dichotomien aufräumen: Liberalismus – zugleich starker Staat. Selbstverantwortung – zugleich Umverteilung; Freier Wille – zugleich unbeeinflussbares Unbewusstes; unbegreifbare Anschauungen Raum und Zeit – zugleich vollkommen transparente Physik; vergängliches Leben – zugleich unvergängliche Seele …
HW: Wer dafür bereit ist, hat das Wesentliche schon begriffen.
Bildnachweis: © Felix Ghezzi
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