Seneca, der römische Parade-Stoiker (gest. 65 n. Chr.) ist berühmt für seine Gedanken zum gelungenen Leben sowie zur Abgeklärtheit im Alter. Er findet, Ludwig Hasler verfehle mit seinem Buch »Für ein Alter, das noch was vorhat« den Sinn des Alters gründlich. Im Gespräch klären die beiden Denker ihre Position.
Ludwig Hasler: Schön, dass Sie sich für mein Buch interessieren, Meister Seneca.
Seneca: Weil es mich beunruhigt. Ich finde, der Grundgedanke darin ist falsch. Sie sagen, die Alten sollten nicht bloß ausruhen, sie sollten »mitwirken an der Zukunft«. Ich bitte Sie. Was soll dieser Aktionismus? Ich dachte, unter Philosophen seien wir uns einig, dass stoische Abgeklärtheit den Menschen adelt, alte erst recht.
LH: Für Philosophen ein prima Ideal. Doch taugt es für alle? Zu Ihrer Zeit kamen nur Leute ins Alter, die nicht arbeiteten. Also bevorzugt Kaiser und Philosophen. Wer arbeiten musste, war früh verbraucht. Oder starb noch früher im Krieg. Heute werden tätige Menschen alt. Ich fürchte, die wollen nicht alle zu kleinen Senecas werden, die fühlen sich nicht wirklich berufen zu Meistern der inneren Seelenruhe und Weltabgeschiedenheit.
SE: Was wäre daran denn schlimm? Stoische Abgeklärtheit ist kein Klassenideal, sondern Menschentugend. Besonders am Lebensabend.
LH: Auch mir gefällt die Vorstellung eines ruhigen »Lebensabends«. Zurücklehnen, betrachten, was wir anstellten, es hoffentlich gutheißen können, wie der Schöpfergott am siebten Tag. Tröstliche Vorstellung, noch für meine Eltern; sie waren mit 60 richtig alt, körperlich verbraucht. Seither jedoch hat sich die Dramaturgie des Altern gründlich verändert.
SE: Was soll sich denn groß verändert haben? Doch nicht die Conditio humana?
LH: Wir leben länger. Noch 1900 wurden Schweizer im Durchschnitt 46-jährig, bald werden 90 Jahre normal sein. Noch mit 70 sind die meisten gar nicht »alt« im herkömmlichen Sinn. Dem Arbeitsleben erstaunlich unbeschadet entkommen, sind sie gesund, vital, unternehmenslustig. Sie freuen sich nicht auf einen kurzen besinnlichen Lebensabend, eher auf einen erlebnisreichen Nachmittag ihres Lebens. Sie sehen im Alter die Chance einer selbstbestimmten Existenz: ihre Tage nach eigenem Gusto gestalten zu können.
SE: Und dazu müssen sie dauernd etwas unternehmen? Merkwürdige Vorstellung von Freiheit. Aus meiner Sicht ist Selbstbestimmung nur zu haben, wenn wir unsere Seele zurückziehen aus dem Getümmel der Welt. Sie haben meine Schrift »De brevitate vitae« gelesen, ja? Dann wissen Sie, was ich von den Klagen über die Kürze des Lebens halte – nichts. Unser Leben ist nicht zu kurz, wir machen es kurz, wir verschwenden unsere Lebenszeit an Dinge, die nicht der Mühe wert sind. Ob wir das länger oder kürzer treiben, ist einerlei. Nun höre ich, ihr treibt es heute auf die Spitze. Jahrzehntelang kümmert ihr euch selbst im Alter noch um die Fitness und die Frisur, um Reiseerlebnisse, um Versicherungen – um lauter äußerlichen Firlefanz, der euch davon abhält, die Seele unabhängig zu halten.
LH: Das kritisieren manche auch heute, sie fragen: Wo bleibt das gute alte Alter im Ohrensessel, das rückwärtsgewandte, stille, zufriedene? Rückzug statt Aktion. Ich finde, die Alternative taugt nicht mehr. Dreißig Jahre im Ohrensessel, das wäre Trägheit, nicht Würde, wäre Passivmitgliedschaft auf Kosten der Jungen. Nein, Bewegung muss sein, fragt sich nur: Bringen wir uns bloß selber in Bewegung (mit Reisen und so) – oder bewegen wir noch ein bisschen mehr? Der hyperaktive Senior ist auch mir suspekt. Ich plädiere fürs Mitwirken an etwas, das größer ist als mein Ich: der Familie, der Gemeinde, der Tradition, den Bienen, der Poesie – an einer Zukunft, auch wenn sie nicht mehr meine sein wird.
SE: Führt das nicht zur Selbstillusionierung? Die unangenehme Wahrheit lautet doch: Im Alter schrumpft die Zukunft, bis wir keine mehr haben. Das ewige Anbändeln mit der Welt täuscht nur oberflächlich darüber hinweg. Es bindet unsere Affekte – und bringt uns um das höchste Gut, Sie wissen: die Seelenruhe, die Freiheit von Affekten.
LH: Ist diese Seelenruhe tatsächlich eine Frucht des Rückzugs aus der Welt? Verhält es sich nicht umgekehrt so, wie schon Aristoteles feststellte – Sie wissen: in seiner »Rhetorik«: Alte Männer werden oft bösartig, mürrisch und kleinlich, weil sie von der Welt ausgeschlossen bleiben und keine Zukunft haben, weil es sie kränkt, nicht mehr dazuzugehören?
SE: Weil es mehr Illusion als Trost bedeutet. Wir kommen der Welt schließlich ja doch abhanden. Also ist es nur konsequent, sich aus Welthändeln fernzuhalten, auf seine Würde zu achten, nach dem Motto »Leben heißt sterben lernen«.
LH: Ist das der Kern der Alterswürde, sich über Jahrzehnte auf sein eigenes Sterben zu präparieren? Mir ist das zu individualegoistisch. Ich sehe den Menschen – mit Aristoteles – als Sozialwesen. Mit sich selbst hält es ein Mensch nicht aus, er ist exzentrisch verfasst, er muss aus sich hinaus, er muss träumen, muss sich verwandeln, muss handeln, mit andern, für andere. So findet er sich – in der Zuwendung zu anderen. Senioren, die der kranken Nachbarin den Garten besorgen, schlafen zufriedener als die, die von der x-ten Kreuzfahrt zurückkehren. Würde im Alter bedeutet: dass ich nicht nur für mich bin, dass ich auch für andere eine Bedeutung habe.
SE: Garten besorgen? Ist das wichtig? Kreuzfahrt? Ist das blöd? Aber ich verstehe zum ersten Mal, was Sie meinen. Der Mensch ist kein festgelegtes Tier, er wird Mensch, wenn er korrespondiert mit etwas, das bedeutender ist als er.
LH: Sie sagten doch selber stets: Es kann niemand gut leben, der nur für sich lebt. Wer mit sich glücklich leben will, muss für andere leben.
SE: Aber dabei dachte ich nicht an den Garten der Nachbarin. Eher an das Ideal der Freundschaft, an die Zuwendung im Gespräch und über dieses Gespräch an Korrespondenz mit geistigen Mächten. Die Seelenruhe, wie ich sie verstehe, nimmt Teil am göttlichen Geist. Den hilfsbedürftigen Nachbarn hatte ich nicht im Blick, da wäre ja Mitleid im Spiel, Mitleid aber macht die Seele leiden; das vermeidet der weise Mann konsequent. Sie überschätzen die Vita activa – und unterschätzen die meditative Kraft des Geistes.
LH: Ich forciere das Mitwirken. Im Kern meine ich: Teilnahme am Leben. Die muss nicht partout praktisch sein. Sie kann theoretisch werden. Jeden Sommer nisten hier im Dach Mauersegler, vom frühen Morgen bis zum späten Abend jagen sie durch die Lüfte, über 200 km/h, ich beobachte sie stundenlang, lese, was ich über sie erfahren kann, tauche ein in Leben außer mir, ich höre auf, nur Ich zu sein, ich fliege mit den Mauerseglern, sie sind meinesgleichen, wir gehören zusammen zum einen unfasslichen Leben, ich überlebe in ihnen gewissermaßen mich selber.
SE: Da treffen wir uns. Von Mauerseglern habe ich keine Ahnung, aber das Alter, der Abschied vom Leben, gelingt nicht im spießigen Festkrallen ans Ich. Es braucht Einstimmung ins kosmische Konzert.
Bildnachweis: © Laila Defelice
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