Die Erzählung »Der Lebhag« des Schweizer Schriftstellers Meinrad Inglin (1893–1971) hat Patrick Hohmann schon früh im Leben begleitet. Der Bio-Baumwollpionier aus der Innerschweiz sieht in der Beziehung zu einer intakten Natur die Basis für ein gesundes Miteinander. Nachstehend berichtet er, warum er diese Erzählung immer mal wieder zur Hand nimmt.
Die Matura wollte ich mit möglichst wenig Aufwand hinter mich bringen. Ich wusste, dass mein Deutschlehrer ein großer Kenner von Meinrad Inglin war. Aus diesem Grund hielt ich es für eine gute Idee, als Maturalektüre etwas von Meinrad Inglin vorzuschlagen. Ich entschloss mich für »Grand Hotel Excelsior« und dabei habe ich auch andere Texte von Meinrad Inglin beschnuppert. Ich suchte mir einfach den kürzesten Text des Schriftstellers aus, den ich finden konnte, und das war die Erzählung »Der Lebhag«. Der Text hat mir gleich gefallen, aber damals habe ich mir keine Gedanken zum Inhalt der Erzählung gemacht. Erst später habe ich eine Verbindung zwischen dem Text und meiner Tätigkeit erkennen können. Ich lese den »Lebhag« seit Jahrzehnten immer wieder, die Verbindung mit diesem Text wird immer tiefer. Bei jeder Lektüre entdecke ich etwas Neues.
»Der Lebhag«: Ich finde nur schon den Titel sensationell. Wenn man die Umwelt zerstört, bricht das soziale Gefüge auseinander. Eine gesunde Landwirtschaft ist die Basis für ein gesundes Sozialwesen. Das beschreibt diese Erzählung ganz genau. Die Hecke wird zerstört, das Land erodiert und der Haussegen hängt immer schiefer. Die Kinder sind nicht mehr interessiert, die Eltern streiten, der Großvater wird griesgrämig. Die Erzählung zeigt, dass eine winzige Änderung große Folgen haben kann.
Es braucht die Beziehung zur Natur und die Beziehungen von Mensch zu Mensch. In der Schweiz zum Beispiel gibt es Bauern, die gar keine Beziehung zur Erde haben, sondern bloß der Subventionen wegen bauern. Das bewirkt, dass sich auch das soziale Gefüge am Geld orientiert. Es fällt auf, dass das soziale Gefüge um Bio-Bauern herum intakt ist. Landwirtschaft mit immer größeren Feldern funktioniert nicht. Ganz im Gegenteil, es braucht kleine Organismen, die miteinander leben können. Der Lebhag in Inglins Erzählung ist einer von diesen kleinen Organismen, er ist eine Metapher für das Verhältnis des Menschen zur Natur. Der Hag für sich allein bewirkt schon, dass die Familie gut zusammenleben kann.
In Tansania gibt es keinen Zaun um das bioRe® Zentrum herum. Das Land einzuzäunen bringt gar nichts, wie es auch im »Lebhag« beschrieben wird. Das bedeutet ja nur, dass alle anderen arm bleiben müssen. Wenn man Europa betrachtet, dann kommt man zu diesem Schluss. Wir wollen die anderen nicht teilhaben lassen an unserer Entwicklung. Im Gegenteil, wir sorgen dafür, dass sie weiter arm bleiben, damit wir reich bleiben können. Meiner Ansicht nach ist das der falsche Vorgang. Wir müssen unbedingt Räume schaffen, damit sich Menschen überall auf der Welt entwickeln können. Tarifvereinbarungen mit Minimumpreisen sind nicht der richtige Weg. Das führt nur dazu, dass man das Geld in den Vordergrund stellt und damit rechtfertigt, dass man weiterhin billiger und billiger einkaufen will.
»Der Lebhag« ist eine unsichtbare Kraft, ähnlich wie z.B. die Homöopathie: Man kann nicht beweisen, warum sie wirkt, aber sie wirkt. Oder die Bodenbeschaffenheit: 80 % der Mikroorganismen kennen wir nicht, aber sie wirken. Wenn wir die Erde untersuchen, auf der genmanipulierte Baumwolle wächst, dann sehen wir große Unterschiede. Wir können sie nicht messen, aber wir sehen den Unterschied. Die Artenvielfalt verschwindet immer mehr. Wenn wir leben wollen, dann müssen wir den unsichtbaren Kräften eine Chance einräumen.
Bildnachweis: © Hans Peter Jost (links), © Joerg Boethling (rechts)
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